EG – Nummer 4 2 8 - "Komm in unsre ..."

 

 

Der Komponist: Manfred Schlenker: Geboren am 15. März 1926 in Berlin ist ein deutscher Kirchenmusiker und Komponist. Er war zuerst Kantor der Studentengemeinde in Halle. 1956 wurde er Domkantor in Stendal und Kirchenmusikdirektor. Von 1975 bis 1988 war er Kirchenmusiker am Dom zu Greifswald Landeskirchenmusikdirektor, Leiter der Kirchenmusikschule Greifswald und des Domchores in Greifswald. Ab 1988 lebte er freischaffend in Stolpe, seit 1999 in Hohen Neuendorf bei Berlin. Er war Mitglied der Ökumenischen Textautoren- und Kom­ponisten Gruppe der Werkgemeinschaft Musik e.V. und der AG Musik in der Ev. Jugend e.V., heute Textautoren- und Komponistengruppe TAKT.

 

Der Texter: Graf von Lehndorff: Der Autor hat in seinen Büchern viel von sich erzählt. Sein Vater, der Landstallmeister Siegfried Graf Lehndorff, Leiter der preußischen Gestüte von Gra­ditz, Trakehnen und Brauns­berg, hatte eine Tochter des Besitzers von Gut Januschau im Kreis Preußisch Eylau geheiratet. Die Mutter Maria von Oldenburg war mit ihren Kindern häufig zu Besuch auf dem Gut. Zwei ihrer Söhne fielen während des 2. Weltkrieges. 1944 wurde Lehndorffs Mutter von den Nationalsozialisten wegen ihrer standhaften Haltung zu einem befreunde­ten Pastor in Haft gesetzt. 1945 kam sie zusammen mit ihrem ältesten Sohn auf der Flucht nach Westen um. Ein Vetter Hans Graf Lehndorffs, Heinrich Graf von Lehn­dorff-Steinort, wurde als Widerstandskämpfer nach dem Attentat am 20. Juli 1944 gehenkt. Hans Graf von Lehndorff, der Medizin studiert hatte und Chirurg geworden war, leitete Anfang 1945 ein Lazarett in Königsberg. Er erlebte die Einnahme der Stadt durch die Sowjetarmee. Seine Erlebnisse nach der Eroberung seiner Heimat, auch des Gutes Janu­schau, durch sowjetische Truppen in den Jahren 1945-1947 legte er in seinem "Ostpreußischen Tagebuch" nieder, das bis weit in die 1990er Jahre immer wieder Neuauflagen erlebte und auch verfilmt wurde. In Bonn-Bad Godes­berg betrieb Graf Lehndorff später lange Jahre eine Klinik und engagierte sich in der Krankenhausseelsorge und der Diakonie. Er war verheiratet mit Margarethe Gräfin Finck von Fin­ckenstein. Dem Johanniterorden gehörte er ab 1949 als Ehrenritter und seit 1952 als Rechtsritter an. In den Jahren 1954 - 1962 führte er die Preußische Genossenschaft des Johanniteror­dens als Kommendator. In Bad Godesberg starb er schließlich 1987&xnbsp; wenige Monate nach dem Tode seiner Ehe­frau.

 

Liedpredigt im Universitätsgottesdienst am 9. Januar 2005 in St. Marien von Jürgen Henkys: Liebe Gemeinde,&xnbsp; heute predigt uns ein Lied –Das Lied heißt "Komm in unsre stolze Welt", und die Worte stammen von Hans Graf Lehndorff.&xnbsp; "Komm in unsre stolze Welt" &xnbsp;- Vielleicht wünschen sich manche heute einen anderen Anfang: Komm in unsre unberechenbare Welt, in unsre erschütterte, verunsicherte, klein gewordene Welt. Das darf alles mitgehört werden. Aber unter dem Lied steht "1968", jene magische Jahreszahl! Da bestimmte eine andere asiatische Katastrophe die Tagesordnung: der Vietnamkrieg. Revoltie­rende Studenten vieler Länder haben mit wütenden Protesten darauf reagiert – und auf die Umstände, die diesen Krieg zu rechtfertigen schienen. Dazu passte die stolze Welt. Dazu passte auch die Bitte: Überwinde Macht und Geld,/ lass die Völker nicht verderben. Und doch ist die Strophe noch nicht über­holt. Der Weg des Friedens ist eine einsame, vielerorts gefährliche und kaum passierbare Straße. In den bekannten Großstadtquartieren gedeihen Hass und Feindessinn. Kommerzielles Werben, verdeckt bis obszön, weidet alles aus, was Geld verspricht – von den öffentlichen Belangen bis zur Intimsphäre. "Komm … mit deiner Liebe Werben". Das war allerdings auch schon 1968 altmodisch. Die Liebe wirbt nicht mehr. Oder doch? Wird das Werben um einen geliebten Menschen nur zugedeckt durch die allgegenwärtige und gewinnträchtige Produktwer­bung? Mit unserem Lied jedenfalls sprechen wir zu einem Liebenden, der nicht nach dem Motto "Veni, vidi, vici" verfährt, sondern der in einer ratlosen, rücksichtslosen Welt um ein persönli­ches Ja bittet. Um Gegenliebe. "Komm!" lautet die Bitte. Und noch viermal werden wir so anheben: "Komm..." Denn eine Bewegung auf uns hin tut Not, das Nahekommen Jesu Christi. Und zwar für alle unsere Verhältnissen. Die sind im Lied räumlich gefasst, also anschaulich. Zuerst ganz weit: "Komm in unsre stolze Welt" – und dann immer enger: "in unser reiches Land", "in unsre laute Stadt", "in unser festes Haus", "in unser dunkles Herz". In konzentrischen Kreisen liegen unsere Verhältnisse um uns herum. In der Mitte das dunkle Herz, das sich nicht mehr herausreden mag, eben auch nicht mit den Verhältnissen. Etwas von dieser konzentrischen Ordnung höre ich auch in der Musik. Das sequenzierende Verfahren in dieser Komposition deute ich versuchsweise von den Kreisen der Strophenfolge her: Ein Melodieteil umgreift immer den nächsten. Wie Schalen stecken sie ineinan­der. Und sie umschließen einen betroffenen, be­wegten Kern, aus dem sich jeweils eine neue Bitte zu Wort meldet. Hans von Lehndorff hat einmal Folgendes erzählt: Im Mai 1947, als er aus dem ostpreußischen Inferno schließlich auf einem Berliner Bahnhof angelangt war, geschah es, (und nun zitiere ich) "dass ein Mensch, dem ich berichtete, mitten im Strom meines Erzählens ein Stück Brot aus der Tasche nahm, es durchbrach und mir die eine Hälfte davon reichte – eine Geste, wie sie in jenen Tagen des Mangels üblich war. Da wusste ich: Nun galt es die ersten Schritte zu tun auf dem Weg, den ein neues Dasein mir anbietet. Und ich stand vor der Frage: Wie wird dies neue Dasein aussehen, und wer wird darüber bestimmen?" Die Bitte "Komm" streckt sich nach Ihm aus, der ‚bestim­men’ soll; um dessen ‚Stimme’ es nach wie vor geht. Das Land ist nämlich reich geworden. Und doch gibt es Arme und Schwache. Im Lande selbst, und immer noch mehr, je weiter man über die östlichen und südlichen Grenzen schaut. Geiz und Unverstand allerdings schauen gar nicht erst hin. Wohlgemerkt: Nicht einfach nur Geiz ist im Spiel, auch Unverstand! Auch Man­gel an vernünftiger Überlegung. So kommt es zu den bekannten Parolen: Die sind ja selber schuld. Oder: Gleichheit kann sowieso kein Ziel sein. Oder: Freiheit! Die wird auch das Andere ins Lot bringen. Aber von Jesus bekennt das Lied: ...der du Arme liebst und Schwache. Und daraus erwächst eine Bitte, die jedenfalls nicht unvernünftig ist: Schaff aus unserm Überfluss/ Rettung dem, der hungern muss. Wie reformiert man eine Überflussgesellschaft? Das scheint schwieriger zu sein, als den Mangel zu verwalten. Für den Dichter geschah der Aufbruch ins Neuland einst unter dem Zeichen gebrochenen und geteilten Brotes. Das reiche Land braucht Menschen, die diese Geste verstehen. Menschen, die sich erinnern können und deren kriti­sches Bewusstsein auch die eigene Ver­gesslichkeit aufklärt. Menschen, die über Gerechtigkeit nicht nur nachdenken, sondern jenem Einen Gerechten nachfolgen. In der Mitte des Liedes steht eines Stadtstrophe, eine Seltenheit im Gesangbuch. City-Lieder fehlen ganz. Schon darum müsste uns Strophe 3 teuer sein. Komm in unsre laute Stadt. Zwar gibt es in jeder großen Stadt auch die stillen Straßen. Aber in den Zentren ist es laut. Stadt und Lärm lassen sich nie ganz auseinander halten.&xnbsp; Ursprünglich hatte Lehndorff seine Strophen mit "Adventslied" über­schrieben. Die laute Stadt war die Stadt des Weihnachtstrubels. In eine solche Stadt komm – mit deines Schweigens Mitte. Doch die Vorstellung geht über Weihnachten hinaus. Wo Jesus Christus mitten in unseren geräuschvollen Auseinanderetzungen und lärmenden Überbietungen gegenwärtig ist und schweigt – wie beim Prozess vor Pontius Pilatus – da meldet sich eine Mitte an. Da hat das Leben die Chance, sich neu zu zentrieren. Aber ist Schweigen denn nicht bedrohlich? Spricht man nicht zu Recht von einem horror vacui, von ei­nem Schrecken, der von der Leere ausgeht? Ein paar Tage vor dem 9. Januar 2005 hat es mitten in Berlin ein Schweigeritual gegeben. Ein verabredetes Schweigen als Antwort auf den unbegreiflichen Tod am Indischen Ozean. Da war das Schweigen ein befristetes Abstandnehmen vom Alltagswirrwarr. Da war das Schweigen der Versuch, sich den Ver­zweifelten und Trauernden zuzuwenden. Es war auch das Forschen nach einer Stimme, die uns mehr zu sagen hat als wir selbst. Viele haben während des Schweigens gebetet. Wenn Er kommt, der in unserem Lied gerufen wird, dann ist das zunächst ein Ereignis für Einzelne. Dann wird es in ihnen so still sein, dass Sein Wort Raum gewinnt, ohne Agita­tion und Reklame. Diese Einzelnen wird das Wort mit Mut und Kraft erfüllen, und von den Einzelnen aus wird es weiter wirken. Um es mit dem Buch Jesaja zu sagen: "Er wird nicht schreien noch rufen, und Seine Stimme wird man nicht hören auf den Gassen." Aber das Recht wird Er aufrichten, und den glimmenden Docht nicht auslöschen. (Jes. 42,1-9) Unsere nächsten räumlichen Verhältnisse, nach Welt, Land, Stadt, sind die vier Wände: das Zimmer, die Wohnung, das Haus. Komm in unser festes Haus,/ der du nackt und ungeborgen. Hier merkt man am deutlichsten, dass das Lied ursprünglich für den Advent ge­meint war. Das überfüllte Bethlehem steht uns vor Augen, die sichere Herberge, in der man nicht zusammenrücken mochte, und, so gut wie unter freiem Himmel, der Verschlag für das Vieh mit der Futterkrippe. Da erinnert der Autor daran, dass das so sehr erstrebte feste Haus auch ein Gefängnis sein kann, ein selbstgewähltes Gefängnis. Gegenbild dieser abgeschotteten Festung ist das leichte Zelt. Die Zelter unter uns können das nach­empfinden: Man übernachtet ohne Komfort, aber man ist der wirklichen Welt ganz nahe, man ist beweglich, man ist frei! Und die Sicherheit? Vorsorge gegen Gefahren muss sein, natürlich. Aber die gesuchte Sicherheit kann auch zum Götzen werden. Und ein Götze verschlingt immer viel mehr, als er zurück­gibt.&xnbsp; Dagegen führt uns das Zeltsymbol zurück zu den biblischen Erzählungen des alten Buches. Am Anfang des Glaubens, der uns mit Israel, dem Volk des Gottesgesandten Jesus verbin­det, standen Väter und Mütter, die mit Zelten umherzogen. Nomadisierende Leute, die sich mit der lauten Stadt und dem festen Haus nur schwer vertraut machten. Das Zeltsymbol aus der Bibel erinnert bis heute mehr an den Weg als an die Burg. Damit aber auch auch an Gastfreundschaft unterwegs. Und an Gottes Geleit auf dem Wege. Unsere Welt, unser Land, unsere Stadt, unser Haus: Der Autor hat sich selbst nie neben die Verhältnisse gestellt. Er weiß sich mitbetroffen, mitverantwortlich. Darum am Ende auch: unser Herz. Das Herz ist dunkel, es braucht Licht. Die Fülle des Lichtes kommt, wenn Jesus Christus einzieht. Vieles gibt es, das uns seine Wahrheit verhüllen will: Perfektionsstreben, Sicherheitswahn, Neid, Angst. Aber wo diese Wahrheit aufstrahlt, geschieht ein Wunder: nämlich dass sie auch jenseits der umkämpften Besitzstände, sogar in tiefster Nacht/ Menschenleben herrlich macht. Gilt ein Men­schenle­ben noch etwas für sich selbst? Es ist als versteckte Bombe gut und als Forschungsmaterial, als Produktionsmittel und als Verbraucher, als Vorzeigekind und als Versor­gungsgarant. Aber in seiner Würde unantastbar, einzigartig ist dass Menschenleben dadurch nicht. Sollte es nicht gerade in seiner Unverwertbarkeit unentbehrlich sein? Sogar herrlich?&xnbsp; 1943, bei schon gewen­detem Kriegsglück, tagte in Breslau die letzte Bekenntnissynode der Kirche der Altpreußischen Union. Im letzten Augenblick reiste auch der Insterburger Arzt Hans von Lehndorff an. Er hatte einen verhinderten Synodalen zu vertreten. In gefährlichster politischer Situation behandelte die Synode ein geradezu selbst­mörderisches Thema: "Du sollst nicht töten!" In einem Synodalbeschluß legte sie den Gemeinden die 10 Gebote aus. Darin hieß es: "Wehe uns und unserm Volk..., wenn es für berechtigt gilt, Menschen zu töten, weil sie für lebensunwert gelten oder einer anderen Rasse angehören..." Ein zeitgenössischer Synodalbericht hält fest, dass in der Aussprache über diese Entschließung "besonders Graf von Lehndorff aus Ostpreußen durch klare, mutige Beiträge auffiel".&xnbsp; Das Menschenleben herrlich, auch noch in tiefster Nacht, weil es im Wahrheitslicht der Liebe Jesu wahrgenommen wird.