EG – Nummer 8 4 - "O Welt, sieh hier dein Leben"

 

Melodie

Isaac, Heinrich, geboren um 1450 in Flandern, gestorben 26. 3. 1517 in Florenz, flämischer Komponist, trat um 1484 in den Dienst der Medici in Florenz, wurde 1497 Hofkomponist Maximilians I. (besuchte jedoch öfters Florenz und auch andere Höfe). 1510 erhielt er vom Kaiser Land in der Nähe von Verona. Er ist einer der bedeutendsten Repräsentanten der kunstvollen Vokalpolyphonie der Niederländer, eines seiner wichtigsten Werke ist der Proprienzyklus "Choralis Constantinus", aber auch seine Messvertonungen bzw. seine Beiträge zum dt. Tenorlied stehen auf höchstem Niveau. So erlangte das Lied "Innsbruck ich muss dich lassen" innerhalb kürzester Zeit so große Bekanntheit, dass der Melodie sowohl neue religiöse ("O Welt ich muss dich lassen") als auch volksliedartige Texte ("Nun ruhen alle Wälder") unterlegt wurden. Isaac selbst hat nach der Diskantlied-Fassung diese Weise als Cantus Firmus eines Tenorliedes verarbeitet.

Für die angesprochene Beliebtheit von Heinrich Isaacs Lied "Innsbruck ich muss dich lassen" spricht auch die schon bald erfolgte Bearbeitung für Tasteninstrumente. Seit dem 13. Jh. wurden fast alle vokalen Formen zum Teil oder ganz von Instrumenten ausgeführt, d.h. schwache oder fehlende Stimmen gestützt bzw. ersetzt, oder überhaupt das ganze Stück instrumental vorgetragen. Bereits zu Isaacs Zeit hatte auch die reine Instrumentalmusik ihren Stellenwert in der Kunst.

Notenbeispiel zu "Innsbruck ich muss dich lassen"

Auf diese Melodie werden folgende Lieder aus dem EG gesungen:

EG 84 - O Welt, sieh hier dein Leben
EG 368 - In allen meinen Taten
EG 423 - Herr höre, Herr, erhöre
EG 477 - Nun ruhen alle Wälder (Satz von Bartholomäus Gesius 1605)
EG 481 - Nun sich der Tag geendet
EG 527 - Die Herrlichkeit der Erden
EG 521 - O Welt ich muss dich lassen

'Kontrafaktur' – Das Stilmittel in diesem Lied

(lat.: contra = gegen, entgegen; facere = machen), intertextuelle Schreibweise (bzw. Verfahren): Übernahme erkennbarer Struktur- und Gestaltungsmerkmale einer Vorlage zur Realisierung einer eigenständigen, von der Vorlage unabhängigen Kommunikationsleistung

Als 'Kontrafaktur' konnte lange Zeit jede Abbildung, also jedes Nach-Gemachte verstanden werden, insbesondere die Nachbildung eines geistlichen Liedes mit einem weltlichen Text (oder umgekehrt), wie sie in der Frühen Neuzeit üblich war. Dabei bleiben Melodie, Rhythmus usw. und mit ihnen die Struktur der Strophen und Verse, womöglich auch das Wortmaterial (insbesondere seine Klangqualitäten) erhalten, der ursprüngliche geistliche Text wird jedoch durch einen weltlichen (oder vice versa) ersetzt. So kann dieser Inhalt vom Bekanntheitsgrad und der Eingängigkeit der Vorlage profitieren. Dieses spezifische Verfahren ist zu einem präzisen Kontrafaktur-Begriff ausweitbar, der innerhalb der Literaturwissenschaft als Schreibweise aufzufassen ist, aber sicherlich – etwa im Bereich der bildenden Kunst – sein Pendant als Bildbearbeitungsverfahren hat.

Dieser Begriff besagt, dass von einer bestimmten Vorlage (gegebenenfalls auch einer eng umgrenzten Klasse von Vorlagen) die erkennbaren und leicht wiedererkennbaren Strukturierungen und Formungen beibehalten werden, um ihr kommunikatives Potential auszunutzen. Dies meint sowohl die Wiedererkennbarkeit der Vorlage als auch die Vorgaben durch die spezifische Gestaltung der Vorlage. Die Vorlage muss also – um die Kommunikation gelingen zu lassen – bei den angezielten Rezipienten bekannt sein.

Unter den – im Fall der Literatur – Strukturierungen und Formungen des Textes sind in erster Linie die folgenden Momente zu verstehen: das Wortmaterial, seine klanglichen Qualitäten, Vers-, Reim- oder Strophenstrukturen, syntaktische, semantische oder stilistische Eigenheiten und dergleichen mehr.

Im Unterschied zur Parodie, die zwar ähnlich vorgeht, richtet sich die Kontrafaktur aber nicht gegen ihre Vorlage, zumindest nicht in der Hauptsache; vielmehr sitzt sie ihr – quasi wie ein Parasit – auf, um eine eigene Botschaft, eigene Inhalte zu transportieren, die oft – ähnlich wie im Falle 'Geistlich' - 'Weltlich' – einem ganz anderen Themenbereich angehören.

Ein klarer Fall für die geistliche Kontrafaktur eines bekannten weltlichen Volksliedes ist Heinrich Knausts "Innsbruck ich muss dich lassen, christlich geändert" von 1571: "O Welt, ich muss dich lassen".

Die damals populäre Vorlage dieser Kontrafaktur, der natürlich dieselbe Melodie unterlegt ist, lautet so:

Isbruck ich muß dich lassen
ich far dohin mein strassen
in fremde landt do hin
mein freud ist mir genomen
die ich nit weiß bekummen
wo ich im elend bin.
Groß leid muß ich yetz tragen
das ich allein thu klagen
dem liebsten bulen mein,
ach lieb nun laß mich armen
im hertzen dein erbarmen
das ich muß von dannen sein!
Meyn trost ob allen weyben
dein thu ich ewig pleyben
stet trew der eren frumm
nun muß dich Gott bewaren
in aller thugent sparen
biß das ich wider kumm!